es ist uncool, Weihnachtsgeschichten zu schreiben
ich glaube, das war auch der Grund
Und über allem liegt der
friedliche Geruch konsequenter Verwesung
Die alte Frau Hagemann
öffnet den Weihnachtsmarktstand. Westfälische Holzschnitzereien.
Alles sieht ein wenig rustikal und traurig aus. Da gibt es Engel,
Weihnachtsmänner, sogar ein Rentier und eine Krippe, die aus einem
Eichenstammblock geschnitzt wurde. Das sieht alles nicht wirklich
schön aus, das weiß auch die alte Frau Hagemann. Aber sie steht
hier von Jahr zu Jahr und verkauft diese Gegenstände. Ihre beiden
Töchter arbeiten in einer Werkstatt für behinderte Menschen und
produzieren derartige Arrangements. Nein, eigentlich nicht wirklich,
die Töchter sind lediglich imstande die Tannenzweige auf die
Fixierungsplatten zu kleben und das auch nur mit großer
Unterstützung eines Mitarbeiters.
Die alte Frau Hagemann denkt
sich, seit ihr Mann tot ist, und der starb schon vor fast 25 Jahren,
dass man doch mal Opfer bringen könnte und eines dieser Opfer ist in
der Kälte zu stehen und eben diese Holzwerkstattsprodukte
anzubieten. Sie arbeitet allein, sie hätte auch eine Schicht haben
können, wo sie mit einem Mitarbeiter der Werkstatt zusammen gewesen
wäre, aber die alte Frau Hagemann hat es nicht so mit diesen
kompliziert denkenden Pädagogen. Und dann am besten noch irgendso
ein Praktikant, der die ganze Zeit am Handy daddelt, da macht sie
ihre Schicht doch lieber alleine. Hat sich zuhause Hagebuttentee
gemacht und zwei Käsebrote belegt und denkt sich, die alte Frau
Hagemann, dass man damit doch gut durch den Tag kommt.
Dinge, die Menschen mit
Behinderung gebaut habe, weiß auch die alte Frau Hagemann, kaufen
Leute nicht, weil sie die Produkte schön finden, sondern zumeist aus
irgendeinem Grund der zwischen "schlechtes Gewissen" und
"Mitleid" liegt. Wenn sie der Tatsache gewahr werden, dass
die Schnitzereien eben von Menschen gefertigt wurden, die physisch
oder kognitiv nicht das können, was man selbst für einen
Normalzustand hält, gemischt mit dieser heimeligen
Weihnachtsmarktatmosphäre, da kann es schon mal passieren, dass
jemand wirklich etwas kauft am Stand der alten Frau Hagemann. Ein
Schild, das die Herkunft der Produkte bezeugt ist deswegen auch gut
sichtbar am Stand angebracht.
Aber da die Realität eine
Sau ist und der Stand der alten Frau Hagemann eingeklemmt zwischen
einem blinkenden Weihnachtsmützenangebot mit Rentierhörnern und
einem Glühweinstand, hat sie eben Pech, dass sich die Leute zumeist
bei ihren Standnachbarn umsehen, statt ihr Angebot in Augenschein zu
nehmen. Ihre Schicht beginnt um 16 Uhr und soll am heutigen Tag bis
zum Ende des Marktes gehen, was 22 Uhr wäre. Etwas verlassen steht
sie also da und schaut, während sich links von ihr Leute mit
blinkenden Mützen ausstatten, die sich rechts von ihr versuchen,
ihren Spaß mittels alkoholischen Getränken zu maximieren. Die
Holzarbeiten scheinen keine gute Saison zu haben.
Jetzt kommt doch so ein Typ
an ihren Stand, als die alte Frau Hagemann gerade einen Schluck vom
Hagebuttentee genommen hat und grunzt besoffen ihre Auslagen an. Er
taumelt schon gehörig wegen seiner Glühweinfüllung und schaut mit
der ihm innewohnenden Arroganz eines feierwütigen Besserverdienenen
auf das Schnitzwerk. Murmelt dann: "Wer sich sowas in die
Wohnung stellt, ist doch selbst behindert." Geht wieder zu
seinen lachenden Freunden, die auch alle blinkende Mützen tragen.
Kurze Zeit später stehen derselbe Mann und einer seiner Freunde
hinter dem Stand der alten Frau Hagemann und lassen stöhnend Urin
ab. Die Rückseite ist abgedichtet durch eine blickundurchlässige
Plane, die aber nicht ganz bis zum Boden reicht. Pissepfützen
umspülen alsbald die Lederstiefel der alten Frau Hagemann. Die kommt
sich immer verlorener vor. Eingerahmt und drangsaliert von diesen
irren Betrunkenen.
Pissegeruch,
Glühweingestank, dazwischen diese überlaute Weihnachtsmusik, die
ständig versucht, Harmonie zu streuen, wo es keine geben kann, das
Gejohle von Betrunkenen, der alten Frau Hagemann wird unruhig zumute.
Sie ist durchaus jemand, die einiges erträgt, aber manchmal ist da
eine Weichheit in ihr, die macht, das alles zuviel wird. Die
Unachtsamkeit der anderen führt meist dazu. Dann keimt in der alten
Frau Hagemann auch manchmal ein bisschen Hass auf und der Wille zur
Selbstjustiz. Wäre es erlaubt, nach Übertreten persönlicher
Grenzen jemanden mit einem geschnitzten Weihnachtsgesteck den Schädel
zu öffnen, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt. Die alte Frau Hagemann
erschrickt vor ihren Gedanken, weiß aber auch, dass darin eine Menge
Gerechtigkeit läge. Sie hält es aus, das ganze Negative in ihr, den
ganzen Gedankenschlamm, der manchmal ihr mütterliches, warmherziges
Denken durchkreuzt und beeinflussen will. Bleibt aber still
verwurzelt und schaut neutral in ihren Hagebuttentee.
Rache ist nicht das Ding der
alten Frau Hagemann. Sie ist eine gottesfürchtige Person, schon von
Kindesbeinen an. Gott, der Herr, wird alles richten und am Ende ein
Gleichgewicht schaffen zwischen den Leidenden und den Aggressoren auf
der Welt. Daran glaubt die alte Frau Hagemann wirklich. Wann aber
dieses Ende stattfinden soll, hat der alten Frau Hagemann niemand
gesagt. Sie ist geduldig.
Es ist jetzt 21 Uhr und sie
könnte die Situation verlassen, weil der Dienstplaneinteiler meinte,
wenn absehbar wäre, dass niemand mehr käme, um die westfälischen
Holzschnitzereien aus der Behindertenwerkstatt zu begutachten,
geschweige denn zu erwerben, könnte man den Stand auch vorzeitig
schließen. Die alte Frau Hagemann aber denkt: 22 Uhr war abgemacht,
bis 22 Uhr kann ich auch bleiben. Zuhause wartet ohnehin nur ihr
altes Ehebett, auf dem sie immer noch auf der ihr angestammten Seite
zum Erliegen kommt und die Fotos ihrer Töchter und ihres
verstorbenen Mannes.
Wieder stolpert jemand aus
dieser Gruppe ungeschickt vom Mützen- zum Glühweinstand, fällt
ungeschickt auf ihre Auslagen und reißt zwei geschnitzte Engel in
die Tiefe. Zorn glimmt auf in der alten Frau Hagemann. Als der Mann
wieder Herr seiner Schritte ist, kotzt er noch einen Strahl
Glückweinwurstkotze vor den Holzstand und taumelt unentschuldigt
weiter. Die alten Frau Hagemann denkt sich, dass sie noch eine halbe
Stunde durchzuhalten hat, bis sie endlich diesen Stand schließen
kann. Ihr Pflichtbewusstsein hindert sie daran, aufzugeben. Sie holte
die gestürzten Engel zurück in den Stand und säubert sie mit
lauwarmen Hagebuttentee. Aushalten. Aushalten.
Mit zerrüttetem Stolz
schließt die alte Frau Hagemann um 22.10 Uhr ihren Stand ab,
verlässt ihn sauber und gespflegt, selbst die Pfütze mit dem
Erbrochenen hat sie olfaktorisch mit Hagebuttentee gelöscht.
Komplett hat das nicht funktioniert, aber bis morgen wird sich der
Gestank verzogen haben. Auch die Männergruppen nehmen letzte
Getränke entgegen, weil der Inhaber des Glühweinstands ebenfalls zu
schließen gedenkt. Laut und dumm sind sie immer noch, aber das geht
vorbei, wenn man sich von ihnen entfernt.
Als sie zwischen
Glückweinbechern, Essensresten und Einwegweihnachtsdevotionalien
durch die Gänge der zumeist schon geschlossenen Stände geht, denkt
die alte Frau Hagemann über Gerechtigkeit nach und was das überhaupt
ist. Ihre Gedanken sind klar, aber nicht mehr so feindselig wie
vorhin. Ihr ist bewusst, dass es nicht ihre Angelegenheit ist, über
irgendwen zu richten, irgendwen bewusst ins Unglück zu stürzen.
Aushalten. In drei Tagen ist Heiligabend.
Am 24. Dezember fährt die
alte Frau Hagemann am Vormittag ins Wohnheim und redet lange mit
ihren Töchtern, die nie imstande waren zu antworten oder
Augenkontakt zu halten. Außerdem spricht sie auch ein bißchen mit
dem pädagogischen Personal. Sie hat Schokolade für ihre Töchter
mitgebracht, die sie ihnen langsam Stück für Stück reicht. Brauner
Speichel rinnt aus freudvoll kauenden Gesichtern und auch die alte
Frau Hagemann ist zufrieden mit sich. Als sie geht, wünscht sie
allen Bewohnern und Mitarbeitern ein fröhliches Fest. Einige antworten, die meisten schweigen.
Den Heimweg bestreitet sie
seit Jahren zu Fuß. Es ist schon dunkel geworden und vor fünf
Jahren musste die alte Frau Hagemann noch keine Pausen machen, heute
sind es drei. In ihrer Wohnung schaut sie andächtig die Heilige
Messe im Fernsehen an. "Herr, ich bin nicht würdig, dass du
eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine
Seele gesund", spricht der Pastor und die alte Frau Hagemann
sagt: "Amen." Dann denkt sie über Würde nach, aber nur
ganz kurz, bis es anfängt weh zu tun, dann tut es ein bisschen weh
und dann sagt der Pastor: "Amen" und die alte Frau Hagemann
guckt kurz wie ein kleines Mädchen, dem man die Lieblingspuppe
entrissen hat, gewinnt aber schließlich wieder die Kontrolle über
ihren Ausdruck. Ist ja auch niemand hier, der ihn begutachten könnte.
Die alte Frau Hagemann geht
durch ihre Wohnung wie eine unlängst angeschossene Person, die
versucht würdevoll zu laufen. Sie holt sich ein Glas Wasser aus der
Küche und gönnt sich Lebkuchen. Ihre Träume sind schwarz-weiß und
langsam. Trotzdem wacht sie jeden Tag auf.
Kommentare:
Hey Dirk, schön zu lesen dass Du noch schreibst. Gut möglich dass Du Dich gar nicht an mich erinnerst.Ich versuche auch gar nicht zu erklären wer ich bin. Es ist schon viele Jahre her.
Deine Bücher haben mich selbst dazu getrieben, ab und an mal was zu schreiben und tatsächlich lesen es ein paar Leute was ich schreibe. Erst bei Facebook und nun versuche ich es in einem Blog.Nichts besonders, aber mir tut das irgendwie gut.Ich wünsche schöne Feiertage und weiterhin viel Inspiration für deine außergewöhnlichen Werke.
LG Fledi
Was ist, wenn ich sage, dass es nicht uncool ist, Weihnachtsgeschichten zu schreiben? Vor allem nicht, wenn sie so cool geschrieben sind, wie es diese ist.
Sie wäre uncool, wenn sie von einer Frau gehandelt hätte, die sich in ihrem Weihnachtsmarktstand darüber gefreut hätte, wie schön die Lichter und wie herzergreifend die Musik um sie wäre. Sie wäre uncool, wenn sie über die Schönheiten einer Zeit des Jahres erzählte hätte, die eben nicht nur aus Lebkuchenduft und Besinnlichkeit besteht.
So, wie diese Geschichte geschrieben ist, ist es einer wahre Weihnachtsgeschichte. Ehrlich und einfach cool.
Ich lese es immer wieder. Mit Tränen in den Augen. Der Text berührt und erschüttert zugleich. Erschreckend wieviel Realität in ihm steckt. Du solltest deinen Blog als Buch veröffentlichen. Mehr Leute sollten das lesen. Es gibt so viele Frau Hagemanns auf dieser Welt.
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